Vor rund 30 Jahren habe ich kurz in Idaho gelebt und gelernt, dass «in the middle of nowhere» nicht nur ein gottverlassener Ort, sondern auch ein unbekannter Ort sein kann. Wobei diese Orte wohl den Vorfahren der Shoshone und der Nez-Percé, die vor der weissen Bevölkerung dort lebten, sehr wohl bekannt waren. Der Niedergang dieser Indianerstämme führte zum Verlust des kollektiven Gedächtnisses und damit der Ortskenntnisse. Das war nicht nur in den Rocky Mountains so. Ganze Städte gerieten dadurch in Vergessenheit. 2018 entdeckten Forscher dank einer speziellen Lasertechnik bei Flugaufnahmen eine riesige Maya-Stadt im Urwald Guatemalas. Eine vergessene Millionenstadt!
Dass ein Ort vergessen gehen kann, scheint uns in der dichtbesiedelten Schweiz kaum vorstellbar. Die Distanzen sind dafür zu kurz. Wenn wir bedenken, dass die Wälder früher grösser und dichter waren, die Bevölkerung nicht so zahlreich, die Wege beschwerlicher, so scheint es nicht mehr unmöglich, dass ein Ort in Vergessenheit gerät. Romain Sardou hat das sehr eindrücklich in seinem Roman «das dreizehnte Dorf» beschrieben. Der Roman spielt im Mittelalter in einem Bistum, das aus 12 Dörfern plus eins besteht, von diesem dreizehnten Dorf weiss niemand am Bistumssitz, ob es überhaupt noch existiert.
Wir kennen im deutschsprachigen Raum eher die Bedeutung des gottverlassenen Ortes. Ein Ort wo Gott einmal war und nicht mehr ist. Wobei auch dies eine sehr menschliche Einschätzung ist. Irren ist bekanntlich menschlich. So wie die Bäuerin sich geirrt hat, die Carlo Levi Ende 1930er Jahre sagte «Wir sind keine Christen, denn Christus kam nur bis Eboli, aber nicht weiter, nicht zu uns». Levi erzählt in seinem Buch von seinem Leben in der Basilikata, wo er von den Faschisten hin verbannt wurde. Die Bäuerin lebt in einem verarmten Dorf, das in Wirklichkeit in einem Bistum liegt dessen erster Sitz von den Goten im 6. Jahrhundert zerstört wurde. Das Christentum war also sehr wohl in diese Gegend gelangt, nur war dies kein Teil des kollektiven Gedächtnisses mehr. Mit seinem Buch löste Levi einiges aus, insbesondere in den 1950er Jahre die Zwangsumsiedlung per Gesetz (!) der Bewohner Materas, weil ihre Höhlenhäuser als Schande Italiens angeschaut wurden. Genau diese Höhlen waren ausschlaggebend, dass Matera 2019 Kulturhauptstadt Europas wurde. Innert 60 Jahre von der Schande zum Stolz Italiens, so schnell kann es gehen.
Unsere Kultur lebt davon, dass sie gepflegt und weitergegeben wird. Unser Wissen und das unserer Vorfahren muss zum Wissen unserer Nachfahren werden, damit es nicht vergessen geht. Orte, die unsere Kultur geprägt haben, müssen gepflegt werden, damit sie daran erinnern, was der Mensch kann, sowohl im Positiven wie im Schrecklisten.
Haben Sie Ihren Kindern gezeigt, wo Sie einst gewohnt haben, zur Schule gingen? Haben Sie Ihnen von Menschen erzählt, die Sie geprägt haben, deren Kontakt Sie gesucht oder gemieden haben? Wenn nicht, dann holen Sie das nach. Das ist Ihr Beitrag zu unserem kollektiven Gedächtnis.
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