Das Wort Solidarität kommt in unserer Bundesverfassung bereits in der Präambel vor. Als ich kürzlich ein Wochengespräch auf Neo 1 hörte, kam mir das wieder in den Sinn, denn der Gast machte Aussagen, die mich verwirrten. Der Medizinethiker Rouven Porz sagte im Zusammenhang mit der Pandemie: «Da war ein neuer Wert da: Solidarität» oder «So gut wie er klingt, war man sich nicht gewöhnt den zu leben». Ein bisschen durchgeschüttelt, habe das schon, fügte er hinzu.
Als ich das Wochengespräch gehört habe, lief es mir kalt den Rücken runter. «Die Schweizer seien sich gewöhnt, ihr Leben zu leben, und legten sehr viel Wert auf Selbstbestimmung» war eine weitere solche Aussage. Meine erste Reaktion war «Ja, schon, aber einen Sinn für Selbstbestimmung braucht es ja auch, um verantwortungsvoll unseren Bürgerpflichten nachzukommen». Je mehr ich über diese Worte nachdachte, umso unwohler fühlte ich mich.
Rouven Porz leitet die Medizinethik der Insel Gruppe. Unser Gesundheitssystem baut auf Solidarität auf, die Gesunden finanzieren es mit. Ein Universitätsspital wie das Inselspital könnten wir weder betreiben noch finanzieren, wenn wir das Gesundheitssystem nicht solidarisch angehen würden. Die Vorstellung, dass die Schweizer sich gar nicht mehr gewöhnt sind, Solidarität zu leben, hat mir nicht gefallen.
Selbstbestimmung ist eine Form von Freiheit. Zwei Philosophen, die sich zum Thema Freiheit geäussert haben, sind mir in den Sinn gekommen. Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) sagte «Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern darin, dass er nicht tun muss, was er nicht will.». Immanuel Kant (1724-1804) sagte « Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt».
Die Aussagen von Rouven Porz zur Situation in der Pandemie zeigen den Widerspruch zwischen Kant und Rousseau auf, weil die Schweizer Freiheit primär wie Rousseau verstehen und weniger wie Kant. «Da war ein neuer Wert da: Solidarität». Anders gesagt, waren wir frei und wurden nie gezwungen, dass nicht zu tun, was wir nicht wollten. Solidarität war für uns dadurch keinen Wert mehr.
Die Meinung, dass die Solidarität ein neuer Wert sein soll, teile ich nicht. Ich kann mich gut an die Sitzung erinnern, an der die Bewegung «üsi Badi» entstanden ist. Wenn die Menschen einen Sinn sehen, setzen sie sich ein, auch wenn der Sinn über das eigene Wohlergehen hinaus geht. In wenigen Tagen wird die neue Badi Huttwil eröffnet. Eine umgebaute Badi hat Huttwil nur, weil es Menschen gibt, die sich für diesen Umbau eingesetzt haben. So schlimm wie es Rouven Porz es formuliert hat, ist es offenbar nicht.
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