Mitte des 19. Jahrhunderts wählte die Schweiz einen anderen Weg als die meisten Länder Europas. Während überall Nationenstaaten entstanden, erfand sich die Schweiz neu als Vielvölkerstaat. Dieser Sonderweg schenkte der Schweiz sehr lange Frieden und seiner Bevölkerung zunehmend Wohlstand.
Heute scheint dieser Sonderweg dies nicht mehr bieten zu können. Ist es eine natürliche Entwicklung, dass die Schweiz sich dem Rest von Europa angleicht? War der Sonderweg von Anfang an zum Scheitern verdammt? Ist die Schweiz irgendeinmal vom Sonderweg abgekommen, hat sie den «richtigen» Weg verlassen?
Hans Pestalozzi vertritt die Meinung, die Wachstumsstrategie sei von Anfang zum Scheitern verurteilt gewesen, weil ewiges Wachstum nicht möglich sei. Heute stösst die Schweiz in der Tat an die Grenzen ihrer Ressourcen. Gegen diese Meinung spricht, die Fähigkeit der Schweiz sich den Veränderungen anzupassen, indem sie die Mehrheit in der Regierung abbildet. Eine Fähigkeit, die sie verloren hat. Der Bundesrat verliert zunehmend Abstimmungen, die er früher nicht verloren hätte.
Vielleicht stimmt beides, vielleicht ist die Schweiz dann falsch abgebogen, als das Wachstum zum Ziel wurde. Reisen wir also zurück und suchen wir diese Abzweigung. Wieso nicht eine Abkürzung nehmen und direkt wieder auf dem richtigen Weg gehen? Dazu müssten wir wissen, ob wir den jetzigen Weg links oder rechts verlassen müssen. Das letzte Abstimmungswochenende hat gezeigt, dass die halbe Schweiz der Meinung ist, der richtige Weg sei links vom jetzigen Weg, und die andere Hälfte, er sei rechts.
Die Schweiz steckt in einer Identitätskrise. Lange hat sie sich als Sonderfall zelebriert und erwacht verkatert. Sie ist normal geworden.
Die Basilicata oder Lukanien, wie die Gegend früher hiess, ist nie aus der Krise gekommen, in der sie mindestens seit der Gründung des Königreichs Italien steckt. Sie hat ihr kulturelles, soziales und symbolisches Kapital besser erhalten als die Schweiz. Was das finanzielle Kapital anbelangt, so liegen Welten zwischen der Schweiz und der Basilicata. Beim ökologischen Kapital sind beide nicht als Musterschüler bekannt.
Am Anfang standen beide an der gleichen Kreuzung und haben unterschiedliche Wege eingeschlagen. Die Resultate unterscheiden sich stark. Können sie voneinander lernen?
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Hans A. Pestalozzi (1989) Auf die Bäume, ihr Affen ISBN 978-3729603134
Der frühere Migros-Manager wandelte sich zum Wirtschaftskritiker und schrieb bissige Bücher über Schwachstellen der konsumorientierten Wachstumsgesellschaft
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