· 

Tribalismus

Als ich mich entschied, Tribalismus im ZEITREISE-Blog zum Thema zu machen, hatte ich nicht damit gerechnet, dass Donald Trump sich die Mühe geben würde, die Aktualität passend zu meinem Beitrag zu gestalten. Wobei ich ehrlich gesagt auf sein Gehabe noch so gerne verzichten würde und auch nicht glaube, dass er seine Zölle so getimt hat, dass sie meinem Blog als Anschauungsunterricht dienen können.


Aber alles der Reihe nach. Wie im letzten Beitrag geschrieben, geht Francis Fukuyama von einem Verlust der Identität aus, der zu einem Verlust der Würde führt. Benachteiligte Gruppen würden um Würde und Gleichberechtigung kämpfen, wobei sie sich jedoch zunehmend auf Opfernarrative berufen, die sich gegen andere Gruppen richten, woraus ein gefährlicher neuer Tribalismus erwachsen soll.


Genau auf dieser Welle reitet Donald Trump mit seiner MAGA-Bewegung (MAGA=make America great again). Er erzählt mit seiner Zollpolitik ein Opfernarrativ von den USA als Opfer und alle anderen Länder der Welt als böse Täter. Für uns Europäer, die vorher vor allem sein Narrativ gegen die Machteliten in Washington wahrgenommen haben, ein neues Phänomen. Dieses Opfernarrativ gehört aber schon lange zu seiner Erzählung des Verlusts von industriellen Arbeitsplätzen in den USA.


Der Begriff Tribalismus stammt von tribalen Gesellschaften, die sich durch Verwandtschafts-beziehungen unter den Eliten auszeichnen, einem gemeinsamen Namen sowie eine von der Gruppe geteilten Kultur und Tradition. Im angelsächsischen Sprachraum werden gegenwärtige politische oder allgemein gesellschaftliche Differenzen und Spaltungen als Tribalismus bezeichnet.


Den amerikanischen Republikanern ist es gelungen, die Wahrnehmung der Existenz einer amerikanischen tribalen Gemeinschaft zu erschaffen. Was bei einem Land, welches nur von Einwanderer bevölkert wird, eine erstaunliche Leistung ist. Sogar die Vorfahren der heutigen Apache oder Sioux sind eingewandert, allerdings viel, viel, viel früher als Trumps Vorfahren.


Nationalistische Entwicklungen gibt es in vielen Ländern. Nationalisten regieren beispielsweise in Russland, der Türkei oder in Ungarn, um nur ein paar europäische Beispiele zu nennen.


Was Fukuyama einen gefährlichen Tribalismus nennt, entspricht dem amoralischen Familismus, den Edward Christie Banfield aufgrund seiner Feldstudien in der Basilicata der 1950er Jahren beschrieb. Im Familismus ist die Verwandtschaft eine Organisation, welche die Existenz des Einzelnen sichert.  Idealerweise stützt diese auch den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt. In Chiaromonte (Provinz Potenza) beobachtete Banfield wie niemand mehr sich für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt einsetzte und alle den Fokus auf die Familie hatten. Er nannte dies amoralischer Familismus.


Damals zählte Chiaromonte über 3'400 Einwohner, heute sind es nicht einmal mehr die Hälfte. Banfield postulierte, dass die Rückständigkeit der Gesellschaft „grösstenteils, aber nicht vollständig“ durch „die Unfähigkeit der Dorfbewohner, gemeinsam für ihr Gemeinwohl zu handeln oder überhaupt für ein Ziel, das über das unmittelbare, materielle Interesse der Kernfamilie hinausgeht“, erklärt werden kann.


Banfield glaubte also der Zerfall sei einer Rückständigkeit geschuldet, er verkannte die langfristigen Veränderungen, welche die Basilicata verarmen liessen, und die zur Auswanderung führte, nicht nur in Chiaromonte.

 

Buchempfehlung

Edward Christie Banfield (1958) Moral Basis of a Backward Society ISBN 978-0-02-901510-0

 

Banfields Feldstudie in Chiaromonte verarbeitete er zu einem Buch über die morale Basis rückständiger Gesellschaften.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0